
Der Tag, als ich nicht ich mehr war
Am Morgen ist alles wie immer: Aufwachen, Kaffeetrinken, ein Kuss für Frau und Kinder und ab mit dem Vorort-Bus ins Büro. Doch schon am Abend ist alles anders: Ein zweites Ich besetzt den Platz am Esstisch. Die Kleinfamilie, Einfamilienhaus, Garten mit Fichte, wird in ihren Grundfesten erschüttert, ein Spiel um Identität, Wahrnehmung und Möglichkeiten beginnt. Das Phänomen der Verdoppelung ist außerdem ansteckend, eine zweite Frau macht das Chaos perfekt – bis niemand mehr weiß, was wahr, wer was und wer wahr ist. Zudem sind die zwei anderen Ichs ungleich freier, lässiger, schlafen nackt und auch öfter miteinander, entführen in neue Welten. An die verhasste Fichte im Vorgarten legen sie ganz einfach die Säge an, kreischend, kichernd… Und am nächsten Morgen: Alles wie immer?
Roland Schimmelpfennig spielt in seinem Auftragswerk für das Deutsche Theater mit der Tristesse des Alltags, der ganz alltäglichen, schmerzvollen Sehnsucht und der Erschütterbarkeit von Identitäten. Wie weit wagt man sich aus der Komfortzone des sicheren Alltags heraus, um sein anderes Ich kennenzulernen? Erschreckt es einen oder findet man sogar Gefallen an diesem?
Der Wechsel zwischen Narrativ und direktem Erleben, zwischen Konstruktion und Magie, der die Dramaturgie Roland Schimmelpfennigs prägt, zeigt die Figuren dieses Stückes sowohl in ihrer Zerrissenheit als auch in ihrer Lust am Spiel. Im Bemühen, ihre eigene Spaltung zu fassen, bewegen sie sich wie in einer theatralen Versuchsanordnung, sind Erzähler und Erzählte, Götter und Opfer, tragisch und komisch zugleich.
Roland Schimmelpfennig spielt in seinem Auftragswerk für das Deutsche Theater mit der Tristesse des Alltags, der ganz alltäglichen, schmerzvollen Sehnsucht und der Erschütterbarkeit von Identitäten. Wie weit wagt man sich aus der Komfortzone des sicheren Alltags heraus, um sein anderes Ich kennenzulernen? Erschreckt es einen oder findet man sogar Gefallen an diesem?
Der Wechsel zwischen Narrativ und direktem Erleben, zwischen Konstruktion und Magie, der die Dramaturgie Roland Schimmelpfennigs prägt, zeigt die Figuren dieses Stückes sowohl in ihrer Zerrissenheit als auch in ihrer Lust am Spiel. Im Bemühen, ihre eigene Spaltung zu fassen, bewegen sie sich wie in einer theatralen Versuchsanordnung, sind Erzähler und Erzählte, Götter und Opfer, tragisch und komisch zugleich.
Regie Anne Lenk
Bühne Judith Oswald
Kostüme Sibylle Wallum
Musik Camill Jammal
Dramaturgie Sonja Anders
Uraufführung
12. Januar 2018, Kammerspiele
12. Januar 2018, Kammerspiele
Camill JammalDer Mann

Elias Arens(und der andere Mann)

Franziska MachensDie Frau

Maike Knirsch(und die andere Frau)

Tabitha FrehnerDie Tochter

Jeremy MockridgeDer Sohn

Der Mann
(und der andere Mann)
Die Frau
(und die andere Frau)
Die Tochter
Der Sohn
Außerdem im Spielplan
Mit englischen Übertiteln
Regie: Claudia Bossard
DT Kontext: Im Anschluss an die Vorstellung Vortrag und Gespräch mit Rainald Goetz
DT Bühne
19.30 - 21.50
Wiederaufnahme
Mit englischen Übertiteln
Forever Yin Forever Young
Die Welt des Funny van Dannen
Regie: Tom Kühnel und Jürgen Kuttner
Kammer
20.00 - 22.40
Regisseurin Anne Lenk ist früher schon am Deutschen Theater sehr angenehm aufgefallen – etwa mit Joseph Roths "Hiob". Hier nun folgt sie den Feinheiten im Text mit viel szenischer Fantasie: Die ganze Eröffnung ist ein Zaubermärchen, mit wolligem Troll und riesigem Kleiderknopf, einem Straußenvogel und anderen magischen Bildern auf dieser "Bühne in der Bühne". Bildnerin Judith Oswald hat hier eine Art Kasperltheater errichtet: Wer von den Stufen davor dort oben hinein tritt, ist mit Sicherheit verwandelt, irgendwie. Das andere Männer-Ich etwa erscheint dann, wenn das eine, erste Ich ein Blatt Papier vom Boden hebt, das gerade vom Himmel fiel – Zaubertricks allüberall. Und Erstaunen immerzu – auch darüber, wie der Autor Schimmelpfenning die eigenen Arbeiten immer wieder irgendwie am Nullpunkt beginnen lassen kann. So bleibt er "wie neu", auch nach so unerhört vielen Texten fürs Theater. Dessen Phänomene verwandelt er in Grübel- und Zauber-Spiele: für (wie jetzt in Berlin) animierte Ensembles. Und für uns, das staunende Publikum. Roland Schimmelpfennig ist Deutschlands meistgespielter Dramatiker, auch, weil er so produktiv schreibt. "Der Tag, als ich nicht ich mehr war" ist sogar eine Auftragsarbeit gewesen fürs Deutsche Theater – und Schimmelpfennig beweist einmal mehr, dass er überraschen kann. Voraussehbar ist bei ihm (fast) nichts, bestenfalls das Unvorhersehbare. [...]
Regisseurin Anne Lenk ist früher schon am Deutschen Theater sehr angenehm aufgefallen – etwa mit Joseph Roths "Hiob". Hier nun folgt sie den Feinheiten im Text mit viel szenischer Fantasie: Die ganze Eröffnung ist ein Zaubermärchen, mit wolligem Troll und riesigem Kleiderknopf, einem Straußenvogel und anderen magischen Bildern auf dieser "Bühne in der Bühne". Bildnerin Judith Oswald hat hier eine Art Kasperltheater errichtet: Wer von den Stufen davor dort oben hinein tritt, ist mit Sicherheit verwandelt, irgendwie. Das andere Männer-Ich etwa erscheint dann, wenn das eine, erste Ich ein Blatt Papier vom Boden hebt, das gerade vom Himmel fiel – Zaubertricks allüberall. Und Erstaunen immerzu – auch darüber, wie der Autor Schimmelpfenning die eigenen Arbeiten immer wieder irgendwie am Nullpunkt beginnen lassen kann. So bleibt er "wie neu", auch nach so unerhört vielen Texten fürs Theater. Dessen Phänomene verwandelt er in Grübel- und Zauber-Spiele: für (wie jetzt in Berlin) animierte Ensembles. Und für uns, das staunende Publikum.
Es ist die ewige Frage nach der Identität, die Schimmelpfennig in seinem kleinen, surreal komischen, philosophischen Gedankenexperiment umkreist: Wie viele Ichs stecken in einer Person? [...]
Anne Lenk gibt Schimmelpfennigs Identitätsspiel als eine Mischung aus groteskem Märchen und Freud’schem Trieb-Traum, bei dem das Unterbewusste und Monströse stets hinterm glitzernden Vorhang hervor bleckt.
Das ist bildreich und fantasievoll [...]. Roland Schimmelpfennig setzt auf das altbekannte Doppelgänger-Spiel. In seinem Stück können die Figuren die Szenen allerdings immer wieder zurückspulen, wiederholen, kommentieren und ändern. [...]
Es ist die ewige Frage nach der Identität, die Schimmelpfennig in seinem kleinen, surreal komischen, philosophischen Gedankenexperiment umkreist: Wie viele Ichs stecken in einer Person? [...]
Anne Lenk gibt Schimmelpfennigs Identitätsspiel als eine Mischung aus groteskem Märchen und Freud’schem Trieb-Traum, bei dem das Unterbewusste und Monströse stets hinterm glitzernden Vorhang hervor bleckt.
Das ist bildreich und fantasievoll [...].
Dabei sind die Kinder (Neu-Ensemble-Mitglied Jeremy Mockridge und Busch-Studentin Tabitha Frehner) die Narrativ-Bestimmer, welche das Geschehen starten und abbrechen können (wie am Schluss den gesamten Abend), in dem sie mit den Fingern schnipsen, und natürlich selbst Bestimmte. [...]
Natürlich sind die alternativen Ichs (von Elias Ahrens und Maike Knirsch mit viel Liebe zur Überzeichnung aufgeladen) ebenso albern wie ihre spießig grauen Originale (Camill Jammal als verloren trotziger Familienvater und Franziska Machens, deren Mutterfigur die besten, weil berührendsten Momente hat, weil bei ihr – etwa in einer mehrschichtigen Barszene mit ihr als Zufallssängerin – sich so etwas wie echte Verzweiflung und Sehnsucht andeuten). Die Bühne (Judith Oswald) ist ein Guckkasten mit schwarzern Samtrückwanden und Glitzervorhang, das Design des Kammerspiele-Innenraums aufnehmend. Dort tanzen zunächst die Figuren und so manche Albdruck-Monster in einer musikalischen Traumsequenz umher, entrückt, geisterhaft, ein Möglichkeitsraum so düster wie albern, so fantasierreich wie banal – wie man sich den Traum eines Spießers vorzustellen mag. [...]
Dabei sind die Kinder (Neu-Ensemble-Mitglied Jeremy Mockridge und Busch-Studentin Tabitha Frehner) die Narrativ-Bestimmer, welche das Geschehen starten und abbrechen können (wie am Schluss den gesamten Abend), in dem sie mit den Fingern schnipsen, und natürlich selbst Bestimmte. [...]
Natürlich sind die alternativen Ichs (von Elias Ahrens und Maike Knirsch mit viel Liebe zur Überzeichnung aufgeladen) ebenso albern wie ihre spießig grauen Originale (Camill Jammal als verloren trotziger Familienvater und Franziska Machens, deren Mutterfigur die besten, weil berührendsten Momente hat, weil bei ihr – etwa in einer mehrschichtigen Barszene mit ihr als Zufallssängerin – sich so etwas wie echte Verzweiflung und Sehnsucht andeuten).
Schimmelpfennigs Text ist ein Möglichkeitsspiel, ein Identitätsexperiment und dafür müssen die Optionen möglichst stark abweichen von der Realität. Tatsächlich sind der andere Mann und die andere Frau, die später auch noch dazukommt, exzentrische, ausschweifende Alter Egos des Ursprungspaars. Sie schlafen nackt, sie haben aufregenden Sex, sie trauen sich was.[...]
Der kleine, nur 70-minütige Abend [...] ist federleicht und präzise inszeniert und deshalb ziemlich unterhaltsam. Die Männer (Camill Jammal/Elias Arens) und die Frauen (Franziska Machens/Maike Knirsch) spielen staunend und übermütig ihre Möglichkeiten aus. Die Kinder (Tabitha Frehner und Jeremy Mockridge) spulen kommentierend die Zeit vor und zurück oder halten sie an. Gemeinsam vergrößern sie die Realität ins Surreale, man trinkt hier aus Wassergläsern mit dem Durchmesser eines Hula-Hoop-Reifens. Bevor wir Zuschauer nähere Bekanntschaft mit dem Mann und seiner Familie machen, werfen wir einen Blick in seine Traum- und Fantasiewelt. Dafür hat die Bühnenbildnerin Judith Oswald oberhalb von fünf breiten Stufen, auf denen sich das Familienleben abspielt, einen Guckkasten aufgebaut mit einem glitzernden Vorhang davor. [...]
Schimmelpfennigs Text ist ein Möglichkeitsspiel, ein Identitätsexperiment und dafür müssen die Optionen möglichst stark abweichen von der Realität. Tatsächlich sind der andere Mann und die andere Frau, die später auch noch dazukommt, exzentrische, ausschweifende Alter Egos des Ursprungspaars. Sie schlafen nackt, sie haben aufregenden Sex, sie trauen sich was.[...]
Der kleine, nur 70-minütige Abend [...] ist federleicht und präzise inszeniert und deshalb ziemlich unterhaltsam. Die Männer (Camill Jammal/Elias Arens) und die Frauen (Franziska Machens/Maike Knirsch) spielen staunend und übermütig ihre Möglichkeiten aus. Die Kinder (Tabitha Frehner und Jeremy Mockridge) spulen kommentierend die Zeit vor und zurück oder halten sie an. Gemeinsam vergrößern sie die Realität ins Surreale, man trinkt hier aus Wassergläsern mit dem Durchmesser eines Hula-Hoop-Reifens.
Regisseurin Anne Lenk schickt zum Entree drollige Fabelwesen auf die Bühne. Das Märchen beginnt und es erzählt von einem Mann und einer Frau, die einander längst überdrüssig geworden sind.[...]
Schimmelpfennig hält den Zuschauern den Spiegel vor, und wir, das brave Premierenpublikum, dürfen bei der Gelegenheit über unser zweites Ich nachdenken. Auch ohne Bühne und Märchenwald. Eine poetische Farce auf das Sein, die Irrelevanz der eigenen Identität und die Spielchen, die uns das eigene Bewusstsein bereitet, hat der bekannte Autor Roland Schimmelpfennig als Auftragsarbeit für das Deutsche Theater in Berlin gezaubert. „Der Tag, als ich nicht ich mehr war“ heißt das dichte und psychisch geschickt aufgebaute Stück, das uns zum Nachdenken über das Sein und Nicht-Sein anregt. [...]
Regisseurin Anne Lenk schickt zum Entree drollige Fabelwesen auf die Bühne. Das Märchen beginnt und es erzählt von einem Mann und einer Frau, die einander längst überdrüssig geworden sind.[...]
Schimmelpfennig hält den Zuschauern den Spiegel vor, und wir, das brave Premierenpublikum, dürfen bei der Gelegenheit über unser zweites Ich nachdenken. Auch ohne Bühne und Märchenwald.
Die Schauspieler tänzeln vergnügt durch die hinreißend bizarren Schlingen und Windungen des Textes und machen sich einen schönen Spaß aus Passagen, in denen etwa der Sohn schildert, was alles nicht geschieht: Der Vater stünde nicht "mit aufgerissenem Mund" und "nicht in wortlosem Entsetzen" in der Tür, indes er genau dies tut. Eine hübsche wie kokette Petitesse ist diese Auftragsarbeit für das Deutsche Theater in Berlin geworden, augenzwinkernd aus der literarischen Ferne und vom Politischen ins Private gewendet [...].
Die Schauspieler tänzeln vergnügt durch die hinreißend bizarren Schlingen und Windungen des Textes und machen sich einen schönen Spaß aus Passagen, in denen etwa der Sohn schildert, was alles nicht geschieht: Der Vater stünde nicht "mit aufgerissenem Mund" und "nicht in wortlosem Entsetzen" in der Tür, indes er genau dies tut.
Vorne versuchen sich die Schauspieler an einer Familienaufstellung. Die Kinder, von Tabitha Frehner und Jeremy Mockridge temporeich gespielt, erzählen die Geschichte ihrer Eltern, spulen vor oder zurück und drücken die Pausetaste. Selbst Sätze wie "Die Sonne läuft rückwärts über den Himmel" klingen bei ihnen angenehm unpathetisch. Die Bühne in den Kammerspielen des Deutschen Theaters besteht aus einer Showtreppe und verschiedenen Theatervorhängen. [...]
Vorne versuchen sich die Schauspieler an einer Familienaufstellung. Die Kinder, von Tabitha Frehner und Jeremy Mockridge temporeich gespielt, erzählen die Geschichte ihrer Eltern, spulen vor oder zurück und drücken die Pausetaste. Selbst Sätze wie "Die Sonne läuft rückwärts über den Himmel" klingen bei ihnen angenehm unpathetisch.
Die Rollen im Theater leben von Behauptungen, a oder b oder x zu sein. Dass daraus selbst ein Thema wird, eine Metapher für die Fragilität von Identitätskonstruktionen, ist eine alte Geschichte für das Theater, von Kleist in seinem Drama „Amphitryon“ bearbeitet. Schimmelpfennigs „Der Tag, als ich nicht mehr ich war“ wirkt wie eine kleinbürgerliche Variante der Geschichte, in der Ehemann und Ehefrau eines Abends von Doppelgängern ihrer selbst besucht werden, die ungeniert das wilde Leben führen, das er als Angestellter und sie als Hausfrau als Sehnsucht oder Wunschbild tief in sich vergraben haben.
Die Schauspieler erzählen und spielen nun mit der gleichen Intensität, was passiert ist und was nicht passiert ist, sie folgen im Spiel der eigenen Erzählung oder weichen von ihr ab, sodass sich aus jeder noch so kleinen und alltäglichen Situation, wie dem Zubettgehen, Varianten entwickeln. Sie sehen ihre Doppelgänger, sie erschrecken und wundern sich darüber oder nicht, sie ignorieren ihn, sie arrangieren sich mit ihm. Roland Schimmelpfennig schreibt seit fast zwanzig Jahren nicht nur viele Dramen, die häufig gespielt werden, er hat in 2016 und 2017 auch zwei Romane herausgebracht. Wie er mit seinen meist einfach gebauten Sätzen die Fantasie von Leser und Zuschauer an die Hand nimmt und ihn – eins, zwei, drei, hast du’s nicht gesehen – in eine Vorstellungswelt hineinführt, in ein Haus, eine Stadt, ein Leben, mit ein paar Sätzen hingepinselt, das verbindet seine Romane und seine Dramen.
Die Rollen im Theater leben von Behauptungen, a oder b oder x zu sein. Dass daraus selbst ein Thema wird, eine Metapher für die Fragilität von Identitätskonstruktionen, ist eine alte Geschichte für das Theater, von Kleist in seinem Drama „Amphitryon“ bearbeitet. Schimmelpfennigs „Der Tag, als ich nicht mehr ich war“ wirkt wie eine kleinbürgerliche Variante der Geschichte, in der Ehemann und Ehefrau eines Abends von Doppelgängern ihrer selbst besucht werden, die ungeniert das wilde Leben führen, das er als Angestellter und sie als Hausfrau als Sehnsucht oder Wunschbild tief in sich vergraben haben.
Die Schauspieler erzählen und spielen nun mit der gleichen Intensität, was passiert ist und was nicht passiert ist, sie folgen im Spiel der eigenen Erzählung oder weichen von ihr ab, sodass sich aus jeder noch so kleinen und alltäglichen Situation, wie dem Zubettgehen, Varianten entwickeln. Sie sehen ihre Doppelgänger, sie erschrecken und wundern sich darüber oder nicht, sie ignorieren ihn, sie arrangieren sich mit ihm.