Impulsvortrag über Max Frisch
von Beatrice von Matt
Eine seiner großen Dichtungen, die Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän, hat Max Frisch immer wieder verworfen. 1979 konnte sie endlich erscheinen. Zuerst hatte das Projekt Regen geheißen, etwas später Klima. Im Berliner Journal schreibt der Autor am 29. April 1973: "Bei Uwe Johnson, Besprechung meines Manuskriptes Regen … Nicht leicht für ihn, da die Arbeit gründlich missraten ist; sein Verdikt kommt denn auch ohne Floskeln … Johnson hat recht, es liegt an der Optik; der Alte kann sich nicht selber darstellen. Hingegen halte ich das Thema, im Gegensatz zu Johnson, für ein Thema, mein Thema." (105)
Ein Glück, dass sich Frisch gegen seinen Freund und langjährigen Berater, den Schriftsteller Johnson, durchgesetzt und an seinem Thema festgehalten hat. Ein Glück auch, dass er später einen Einwand Johnsons gelten liess: er löste sich von der "Ich"-Perspektive und nannte seinen alten Helden distanziert "Herr Geiser". Denn dieser pensionierte Firmenchef, Chemiker von Beruf, ist nicht als ein Mensch gezeichnet, der sich selber reflektiert, sich selber erzählt. Er ist ein alt gewordener Bruder des Homo faber.
Doch welches ist das Thema, das Frisch als sein Thema bezeichnete? Im gleichen Berliner Journal sagt er es so: "… es müsste doch möglich sein, ein Tal zu erzählen, wo man gelebt hat." (129) Er meint das Valle Onsernone oberhalb Locarno, wo er in den 60-er Jahren ein Bauernhaus als Wohnstatt eingerichtet hat, zusammen mit seiner Frau Marianne Oellers. Und dieses Tal wird nun genauestens erfasst mit seiner wilden Bergnatur, den Gesteinen, den Tieren, den misstrauischen Einheimischen, samt Saumpfaden und schmaler Strasse vom Tal herauf. Als Frisch 1979 uns, meinem Mann und mir, den schmalen Band (mit dem Dinosaurier vorne drauf) Der Mensch erscheint im Holozän überreichte, bemerkte er denn auch etwas spöttisch: "Mein erster Heimatroman."
Diese Heimat nun befindet sich in einem Extremzustand: es regnet seit Tagen, der Strom fällt aus, weiter unten ist die Straße verschüttet. Nebel, Nässe, unablässige Donner, eine unheimliche Endzeitstimmung, lassen den Autor sein Thema ausweiten, hin auf Erfahrungsbereiche aus der Grauzone unserer Existenz. Da figuriert die Welt als ungesichertes Gelände. Allenthalben herrscht Rutschgefahr. Schon eine frühe autobiografische Erzählung von 1938 spricht von solchen Schrecken. Frisch berichtet, wie er als Bub in der Stubentapete gleich unter der Uhr einen Riss entdeckte. Die Mutter saß daneben und strickte. Beiläufig bemerkte sie, ein solcher Riss werde allmählich immer breiter. Das Kind malt sich aus, wie der Schaden mit jeder Minute, die da tickt, ein wenig größer wird. Der 26-jährige, der die Geschichte niederschreibt, erinnert sich, dass ihn seither der Gedanke verfolgt hat, dass schließlich die ganze Hauswand "wie ein großer Karton" auf die Straße hinausfallen müsse, wie "unsere gemütliche Stube … plötzlich allen fremden Blicken und allen Winden offen wäre". Und jetzt, so der junge Autor, gehe dieser Riss durch alles hindurch, durch alles, was er empfinde, was er denke, was er versuche. (S. 132 f.)
40 Jahre später bedrohen Riss und Rutschgefahr Herrn Geiser, den Gefangenen im Regental. Den Spalt im Berg hinter dem Haus versucht er sich auszureden: neue Bruchstellen wären heller, meint er. Ein Riss durchs Gartengelände wäre allerdings bedenklich. Der Hang unterhalb könnte abrutschen, alles mit sich reißen, was nicht auf Fels steht. (45) Geiser weiß, daß die "glaziale Unterschneidung der Hänge" viele Bergstürze ausgelöst hat. (50) Bereits ist die von ihm einst aufgebaute Trockenmauer eingestürzt.
Der einsame Mann, Witwer, 74 Jahre alt, fürchtet Gedächtnisverlust. "Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses" ist ein Satz im Buch, der wiederkehrt. Um sich seine Angst auszutreiben, klammert er sich an Selbstbeschwichtigungen. Die Beschreibung dieser Verfassung – Sorge und Verdrängung der Sorge – ist ein stilistisches Wunderwerk, ein dialektisches Wunderwerk: der Autor lässt die Figur in knappsten Feststellungen zwischen Angst und Selbstbegütigung hin und her schwanken. Als Beispiel ein Zitat: "Eine kleine Mauer im unteren Garten (Trockenmauer) ist eingestürzt: Geröll im Salat, Fladen von Lehm unter den Tomaten …" Und gleich folgt der Trost, der die Sorge der havarierten Mauer wegen ausräumt, verdrängt und nur von den havarierten Tomaten handelt: "Tomaten gibt es auch in Dosen." (14) Anderswo heißt es: "Heute gurgelt es wieder" und sofort wird beschwichtigt: "Wenigstens schneit es nicht." (24) Der Gerontologe Paul B. Baltes hat diese Art der ständigen Selbstbegütigung als hervorstechende Denkweise alter Leute beschrieben – von Leuten also, die sich vor Todesvorstellungen retten und sich auf alle Arten eines lebbaren Alltags versichern müssen).
Solche Bewältigungsversuche einer bedrohlichen Realität, sind auch die verschiedensten Listen, die Geiser erstellt. Von Donnerphänomenen beispielsweise. Er unterscheidet den einfachen Knall-Donner, den stotternden oder Koller-Donner, den Hall-Donner, den rollenden oder Polter-Donner, den Pauken-Donner, den zischenden Schotter-Donner, den Kegel-Donner, den Kicher-Donner etc (12). Ebensolche Listen erstellt er von verschiedenartigen Regen, oder von den Lebensmittel-Vorräten, die noch da sind. Der Mensch liebe Listen, weil er nicht sterben wolle, hat Umberto Eco gesagt (im Buch Die unendliche Liste 2009). Da Geiser jedes Wissen gleich wieder abhanden kommt, steckt er lexikalische Fakten auf Zetteln an die Wand. Er sammelt Daten zur Erdgeschichte. Das Tal erinnert ihn an Island, das er einst besucht hat: Das sei eine Welt "wie vor der Erschaffung des Menschen". (70) Fast instinktiv denkt sich der Alte hinter die Epoche zurück, in der der Mensch erstmals erscheint. Er verfällt einer frühen Evolutionsstufe. Einem Wilden gleich, brät er die Katze, sein und seiner verstorbenen Frau Elsbeth einstiges Totemtier. Über seinen Augen spürt er Wülste wachsen. Er glaubt, er werde ein Lurch. Er gleicht sich halluzinatorisch dem Feuer-Salamander an, den er in der Badewanne gefunden hat. Der Salamander wird ihm zum Dinosaurier. (Man könnte mit Freuds Werk Totem und Tabu operieren – demgemäß käme Geiser mit seinen animistischen Fantasien einem Wilden nahe.)
Geiser hat kein Spektrum von Möglichkeiten verschiedener Lebensentwürfe erprobt. Andere Frisch-Figuren haben das gewagt: Gantenbein beispielsweise im Spiel mit seinen Männerrollen oder der sich verweigernde Stiller. Auch Balz Leuthold hat es riskiert mit seiner tollkühnen Bergtour – so in Antwort aus der Stille. Herr Geiser aber erscheint als ein später Homo faber, oder doch als ein alt gewordener Bruder Walter Fabers. Sie wissen: das ist der vom Schicksal geschlagene Ingenieur aus dem Roman von 1957. Bevor ihn das Schicksal – Inzest, Tod der Tochter, unheilbare Krankheit – ereilte, war Fabers Leben ein Nicht-Leben gewesen wie das von Herrn Geiser. Faber, der Technokrat, hielt nichts von Träumen, nichts von Utopien (Utopie: das war einst ein Lieblingsbegriff von Frisch und seiner Generation). "Mathematik genügt mir", hatte Faber gesagt. Immerhin dämmert ihm am Schluss eine Erkenntnis: was gelte, sei "standhalten der Zeit beziehungsweise Ewigkeit im Augenblick. Ewig sein: gewesen sein". "Homo faber, der sich selbst versäumt", urteilt Frisch in einer Rede von 1974 über seine frühe Figur. (106) Hätte Faber unbelehrt, ohne Tragödie und Krankheit, sein Dasein verbracht, ihm wäre vielleicht ein Ende wie das von Geiser beschieden gewesen. Denn Geiser, dieser Schlüsselheld der modernen Literatur, hat so wenig Lebenssubstanz angesammelt, dass er im Alter recht eigentlich in sich zusammenfällt. (Das ist, ich muss es betonen, von Frisch her gedacht – und seinem fordernden Existenzialismus).
Der Autor schafft mit der Holozän-Erzählung eine archaische Situation, die dem Nicht-Leben des Protagonisten entspricht: Selbstverlust, eingebildete Tierwerdung … Wenn in Montauk unsere "Gier nach Geschichten" und damit unsere Sehnsucht nach anderen Möglichkeiten, (Frisch spricht gern von Möglichkeiten), erwogen wird, so bleibt dem armen Geiser nur das Untertauchen im naturhaft Vorgeschichtlichen.
Seine Existenz zersetzt sich also von außen und von innen her. "Nur der Mensch hat Zukunft" steht auf einem seiner Lexikonartikel. Ein sarkastischer Vorbehalt zieht sich durch den Text. Ein bissig witziger Ton ist ihm unterlegt: Herr Geiser hat ja gerade keine Zukunft, und vielleicht will er auch keine mehr. Er hat noch eine hoch riskante Flucht über den Pass ins benachbarte Maggiatal unternommen. Wie er dort aber den nächsten Postbus nach Locarno hätte erreichen können, dann den Zug nach Basel, kehrt er um bei Nacht und Regen über reissende Bäche, über Stock und Stein. "Was soll Herr Geiser in Basel?" Triebhaft sucht er den Weg zurück in seine Höhle.
Wer ist er denn eigentlich gewesen, dieser Herr Geiser? Er war Ehemann, Familienvater, Grossvater, ein verlässlicher Patron seiner Firma – auch wenn sein Schwiegersohn als sein Nachfolger jetzt dreimal mehr Umsatz schafft. Ich sehe Herrn Geiser als einen Jedermann. Als Vertreter jenes Bürgertums, das gerade seines unreflektierten Selbstverständnisses wegen, seiner Selbstgenügsamkeit wegen, von einem wie Frisch schwer in Zweifel gezogen wurde.
Was der Dichter selbst den "Lebensaugenblick" nennt, die "Aktualität der eigenen Existenz" (Berliner Journal 97) dürfte dieser Alte kaum je bewusst wahrgenommen haben. Bis zuletzt denkt dieser Schriftsteller heimlich vom Existenzialismus her. Sein Protagonist ist denn auch einer, der sich nie freigesetzt, der nie einen Aufbruch gewagt hat. Er unterscheidet sich also deutlich vom Autor selber.
Von diesem aus gesehen ist Herr Geiser mit seiner Altersverwahrlosung, seinen sinnlosen Handlungen, (seinem Sturz von der Treppe) eine Abwehrgestalt. Mit der Figur bannt Frisch seine eigene Horrorvorstellung. Deshalb konnte er wütend werden, wenn man ihn kurzerhand mit Geiser gleichsetzte. Das taten damals viele, denn eben, es war bekannt, dass der Schriftsteller in Berzona, zuhinterst im Onsernonetal, selber ein Haus besaß. Gewiss, auch er fürchtete panisch den Gedächtnisverlust – was beispielsweise schon im 2. Tagebuch nachzulesen ist. Oder auch im Berliner Journal, welches in den gleichen 70-er Jahren geschrieben wurde wie Der Mensch erscheint im Holozän. In Montauk – eben auch in jenen Jahren entstanden – gibt diese Angst fast ein Leitmotiv ab. Überhaupt könnte man Montauk als ein Gegenwerk sehen zum Holozän. In Montauk entwirft der Autor sich selber: und diese Figur ist eine deutliche Gegenfigur zu Geiser. Das Montauk-Ich, manchmal auch ein Er, möchte dem Phänomen Zeit auf die Spur kommen und wie wir dem ausgeliefert sind von Minute zu Minute. Oder doch von Viertelstunde zu Viertelstunde. Wir täuschen uns mit vielerlei Veranstaltungen über die Zeit hinweg, achten zu wenig darauf, was diese mit uns macht, wie wir in Repetitionen erstarren. Einer der Schlüsselsätze lautet: "Es bleibt das irre Bedürfnis nach Gegenwart." (140) ((Ev S. 130 Montauk: Wer 40 Jahre bei der Bundesbahn gearbeitet habe, wisse, warum das Leben so kurz gewesen ist))
Gegen sein Haus in Berzona hatte der Schriftsteller stets Vorbehalte. Man könne darin anhocken, "ansteinern", meinte er. Darin verkommen wie Geiser. Ein anderer fundamentaler Unterschied zwischen Autor und Figur: Geiser kopiert Texte, schneidet sie aus, sammelt, wie es im Berliner Journal heißt, sogenannt "vorrätige Sätze". Er aber, der Autor, billigt nur "überraschende Sätze".
Schon mit vierzig hatte Frisch den Tod reflektiert. Und unablässig dazu ermahnt, dieser Tatsache entgegenzuwirken. In Antwort aus der Stille, dem Bergroman aus den 30-er Jahren, (– der hier am Deutschen Theater ja auch in einer Dramatisierung zu sehen ist –) heißt es: "Warum leben wir nicht, wo wir doch wissen, dass wir nur ein einziges Mal da sind … auf dieser unsagbar herrlichen Welt". Institutionen aber, Berufszwänge fressen jedwedes Bewusstsein wahrer Gegenwärtigkeit weg. Im frühen Stück Santa Cruz nimmt der Protagonist Abschied von seiner Frau, mit der er 17 Jahre lang verheiratet war. Er will hinausfahren aufs Meer: "Teure Elvira … noch einmal das Meer … noch einmal die Weite alles Möglichen … Ich möchte noch einmal fühlen, welche Gnade es ist, dass ich lebe, in diesem Atemzuge lebe – bevor es uns einschneit für immer." (35/36)
Nur diese Offenheit für den unmittelbaren, den lebendigen Augenblick kann Zukunft schaffen. Stiller wäre das einst fast gelungen. Nach einem Suizidversuch wurde ihm in einem Erkenntnisblitz die Gnade zuteil, sich neu auf die Welt zu bringen. Das erfuhr er in einem New Yorker Spital. Doch diese seine wahre, seine zweite Geburt, wird ihm zuhause im Städtchen (so nennt Stiller seine Heimatsstadt Zürich) aberkannt – so daß er resigniert und schließlich so einsam verdämmert wie Herr Geiser.
Eines von Geisers letzten Stichworten an der Wand heißt "Eschatologie". Dieser Eschatologie, der Lehre also von den letzten Dingen, setzt der Autor im eigenen Namen, wann immer es geht, etwas entgegen, das man mit dem Wort Epiphanie umschreiben könnte – einem Wort also, das Aufbruch herbeiwünscht, Neuschöpfung. ((Luigi Pirandello, mit dem sich Frisch schon in den 40-er und 50-er Jahren befasst haben dürfte, sagt es so: "Nur so kann ich noch leben jetzt: Neu geboren werden jeden Augenblick d. h. jeden Augenblick sterben und ohne Erinnerungen neu geboren werden." (S. 69 im Roman Uno, nessuno, centomila)). Jeder Moment müsste also neu erfahren werden, damit der existenzielle Anspruch sein Genügen fände. Bei Frisch spielt dieser Anspruch ins Religiöse. Man könnte seine Epiphanie also deuten als Durchbruch zum „Lebensgott“, von dem er einmal gesprochen hat. An diesem Gott versündigt sich, wer sich dem „Gespenst der Wiederholung“ preisgibt. „My greatest fear: repetition“ heißt es in „Montauk“. (50). Frischs Existenzialismus, sein Lobpreis des Lebensaugenblicks, hatte seit jeher etwas Forderndes, aber auch eine festliche Note. Auch noch im „Berliner Journal“, wo die unglaubliche Bemerkung zu lesen ist: „Die Luft auf der Haut, dieser Morgen in Rom als Gegenwart; das aber ist dreizehn Jahre her. Nicht Erinnerung, sondern die Gegenwart.“ (68) Frisch also ist definitiv nicht Geiser. Mit dieser Figur aber bannt er seine Angstvision. Eine Angstvision von Selbstverlust, von Chaos, worin sich der Mensch im Alter verlieren kann. Gegen diese Panik hat er seit jeher angeschrieben.
Dabei aber unterzog er auch das Schreiben oft genug einem grundsätzlichen Verdacht: Schreiben ist nicht Leben – so ein Dilemma dieses Autors. Er könne es jedoch nicht lassen zu schreiben. In Montauk berichtet er, er habe eine kleine Schreibmaschine gekauft – obwohl eine literarische Erzählung, die im Tessin spiele, zum 4. Mal missraten sei. "Diese Obsession, Sätze zu tippen", fügt er an (21). Das Schreiben hat Frisch also oft angezweifelt. Immerhin hilft es, die Verwahrlosung in der Routine zu erkennen und analysierend zu ordnen. Einer, der schreibt, ist eher Herr seiner selbst, Richter seiner selbst. Die Feder hat der todkranke Schriftsteller mit einem Skalpell verglichen. Sie schneide mitten hinein in die Dinge, benenne vorgespiegelte Tatsachen.
Jede Realität aber droht sich zu verfestigen. Im 3. Tagebuch hat Frisch, der eidgenössisch diplomierte Architekt, sein letztes Haus entworfen. Es existiert nur als Skizze auf einem Blatt Papier. 71 Jahre alt, sass der Schriftsteller in einer New Yorker Bar und zeichnete (1982) auf, was er als sein "Lebensabendhaus" bezeichnete. Mit dem realen Gebäude in Berzona hat es nichts zu tun. Es existiert nur in der Phantasie, ein weißes hölzernes Haus, das in Neu England stünde und in dem die Toten zu Gast wären, u. a. "der junge Tschechow, der Tolstoi getroffen hat". (58) Diese luftige Bleibe ist der Gegenentwurf zu Geisers Behausung im Tessin. Die Poesie ist der erstarrten Realität also doch überlegen.
Was die beiden Protagonisten betrifft, die hier am Deutschen Theater auftreten, Geiser also und Leuthold, so sind da auch auffällige Parallelen festzustellen: Es ist eine radikale Einsamkeit, welche sie verbindet. Im Buch des jungen Frisch, Antwort aus der Stille, setzt sich der Held einer absoluten Grenze aus. Er weiß nicht, auf welche Seite er kippen wird: auf die Seite des Lebens oder auf die Seite des Todes. Leuthold überlebt seinen Gang auf den Nordgrat, schwer lädiert allerdings. Auch der Held des alten Frisch wagt ein lebensgefährliches Unternehmen mit seiner Flucht über abschüssig glitschige Wege. Doch er tut das instinktiv, ohne Willen zur Selbstbefreiung.
In beiden Büchern erscheint das Gebirge als ein Reich des Todes. Gegen Abend sieht Leuthold den Berg stehen "wie eine finstere Schlacke … und die Wolken, die weiterziehen, sind wie graue und weggeblasene Asche". (16) Die Felsen scheinen "knochengelb" (und dies in beiden Büchern) (128). Dann aber, nach seiner Rückkehr vom Berg, denkt Leuthold, bevor er in Schlaf fällt, es sei "ein unsagbar ernstes Glück, leben zu dürfen". Nirgends könne Leere sein, wo dies Gefühl auch nur einmal wirklich errungen worden sei, dies "Gefühl der Gnade und des Dankes". (145) Eine gewisse Leere aber breitet sich am Schluss von Holozän aus, wenn auch eine unter makelloser Himmelsbläue. (Diese Ausführungen sind ganz von Frisch her gedacht. Jede, jeder aber liest anders, das macht ein Werk produktiv. Ich bin gespannt, wie die Regie, die Dramaturgie, wie die Schauspieler an den Text herangehen).
(c) Beatrice von Matt
Vortragsmanuskript (Impulsvortrag gehalten am 7. Oktober 2016 am Deutschen Theater Berlin, anlässlich der Aufführungen von Der Mensch erscheint im Holozän und Antwort aus der Stille)
Ein Glück, dass sich Frisch gegen seinen Freund und langjährigen Berater, den Schriftsteller Johnson, durchgesetzt und an seinem Thema festgehalten hat. Ein Glück auch, dass er später einen Einwand Johnsons gelten liess: er löste sich von der "Ich"-Perspektive und nannte seinen alten Helden distanziert "Herr Geiser". Denn dieser pensionierte Firmenchef, Chemiker von Beruf, ist nicht als ein Mensch gezeichnet, der sich selber reflektiert, sich selber erzählt. Er ist ein alt gewordener Bruder des Homo faber.
Doch welches ist das Thema, das Frisch als sein Thema bezeichnete? Im gleichen Berliner Journal sagt er es so: "… es müsste doch möglich sein, ein Tal zu erzählen, wo man gelebt hat." (129) Er meint das Valle Onsernone oberhalb Locarno, wo er in den 60-er Jahren ein Bauernhaus als Wohnstatt eingerichtet hat, zusammen mit seiner Frau Marianne Oellers. Und dieses Tal wird nun genauestens erfasst mit seiner wilden Bergnatur, den Gesteinen, den Tieren, den misstrauischen Einheimischen, samt Saumpfaden und schmaler Strasse vom Tal herauf. Als Frisch 1979 uns, meinem Mann und mir, den schmalen Band (mit dem Dinosaurier vorne drauf) Der Mensch erscheint im Holozän überreichte, bemerkte er denn auch etwas spöttisch: "Mein erster Heimatroman."
Diese Heimat nun befindet sich in einem Extremzustand: es regnet seit Tagen, der Strom fällt aus, weiter unten ist die Straße verschüttet. Nebel, Nässe, unablässige Donner, eine unheimliche Endzeitstimmung, lassen den Autor sein Thema ausweiten, hin auf Erfahrungsbereiche aus der Grauzone unserer Existenz. Da figuriert die Welt als ungesichertes Gelände. Allenthalben herrscht Rutschgefahr. Schon eine frühe autobiografische Erzählung von 1938 spricht von solchen Schrecken. Frisch berichtet, wie er als Bub in der Stubentapete gleich unter der Uhr einen Riss entdeckte. Die Mutter saß daneben und strickte. Beiläufig bemerkte sie, ein solcher Riss werde allmählich immer breiter. Das Kind malt sich aus, wie der Schaden mit jeder Minute, die da tickt, ein wenig größer wird. Der 26-jährige, der die Geschichte niederschreibt, erinnert sich, dass ihn seither der Gedanke verfolgt hat, dass schließlich die ganze Hauswand "wie ein großer Karton" auf die Straße hinausfallen müsse, wie "unsere gemütliche Stube … plötzlich allen fremden Blicken und allen Winden offen wäre". Und jetzt, so der junge Autor, gehe dieser Riss durch alles hindurch, durch alles, was er empfinde, was er denke, was er versuche. (S. 132 f.)
40 Jahre später bedrohen Riss und Rutschgefahr Herrn Geiser, den Gefangenen im Regental. Den Spalt im Berg hinter dem Haus versucht er sich auszureden: neue Bruchstellen wären heller, meint er. Ein Riss durchs Gartengelände wäre allerdings bedenklich. Der Hang unterhalb könnte abrutschen, alles mit sich reißen, was nicht auf Fels steht. (45) Geiser weiß, daß die "glaziale Unterschneidung der Hänge" viele Bergstürze ausgelöst hat. (50) Bereits ist die von ihm einst aufgebaute Trockenmauer eingestürzt.
Der einsame Mann, Witwer, 74 Jahre alt, fürchtet Gedächtnisverlust. "Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses" ist ein Satz im Buch, der wiederkehrt. Um sich seine Angst auszutreiben, klammert er sich an Selbstbeschwichtigungen. Die Beschreibung dieser Verfassung – Sorge und Verdrängung der Sorge – ist ein stilistisches Wunderwerk, ein dialektisches Wunderwerk: der Autor lässt die Figur in knappsten Feststellungen zwischen Angst und Selbstbegütigung hin und her schwanken. Als Beispiel ein Zitat: "Eine kleine Mauer im unteren Garten (Trockenmauer) ist eingestürzt: Geröll im Salat, Fladen von Lehm unter den Tomaten …" Und gleich folgt der Trost, der die Sorge der havarierten Mauer wegen ausräumt, verdrängt und nur von den havarierten Tomaten handelt: "Tomaten gibt es auch in Dosen." (14) Anderswo heißt es: "Heute gurgelt es wieder" und sofort wird beschwichtigt: "Wenigstens schneit es nicht." (24) Der Gerontologe Paul B. Baltes hat diese Art der ständigen Selbstbegütigung als hervorstechende Denkweise alter Leute beschrieben – von Leuten also, die sich vor Todesvorstellungen retten und sich auf alle Arten eines lebbaren Alltags versichern müssen).
Solche Bewältigungsversuche einer bedrohlichen Realität, sind auch die verschiedensten Listen, die Geiser erstellt. Von Donnerphänomenen beispielsweise. Er unterscheidet den einfachen Knall-Donner, den stotternden oder Koller-Donner, den Hall-Donner, den rollenden oder Polter-Donner, den Pauken-Donner, den zischenden Schotter-Donner, den Kegel-Donner, den Kicher-Donner etc (12). Ebensolche Listen erstellt er von verschiedenartigen Regen, oder von den Lebensmittel-Vorräten, die noch da sind. Der Mensch liebe Listen, weil er nicht sterben wolle, hat Umberto Eco gesagt (im Buch Die unendliche Liste 2009). Da Geiser jedes Wissen gleich wieder abhanden kommt, steckt er lexikalische Fakten auf Zetteln an die Wand. Er sammelt Daten zur Erdgeschichte. Das Tal erinnert ihn an Island, das er einst besucht hat: Das sei eine Welt "wie vor der Erschaffung des Menschen". (70) Fast instinktiv denkt sich der Alte hinter die Epoche zurück, in der der Mensch erstmals erscheint. Er verfällt einer frühen Evolutionsstufe. Einem Wilden gleich, brät er die Katze, sein und seiner verstorbenen Frau Elsbeth einstiges Totemtier. Über seinen Augen spürt er Wülste wachsen. Er glaubt, er werde ein Lurch. Er gleicht sich halluzinatorisch dem Feuer-Salamander an, den er in der Badewanne gefunden hat. Der Salamander wird ihm zum Dinosaurier. (Man könnte mit Freuds Werk Totem und Tabu operieren – demgemäß käme Geiser mit seinen animistischen Fantasien einem Wilden nahe.)
Geiser hat kein Spektrum von Möglichkeiten verschiedener Lebensentwürfe erprobt. Andere Frisch-Figuren haben das gewagt: Gantenbein beispielsweise im Spiel mit seinen Männerrollen oder der sich verweigernde Stiller. Auch Balz Leuthold hat es riskiert mit seiner tollkühnen Bergtour – so in Antwort aus der Stille. Herr Geiser aber erscheint als ein später Homo faber, oder doch als ein alt gewordener Bruder Walter Fabers. Sie wissen: das ist der vom Schicksal geschlagene Ingenieur aus dem Roman von 1957. Bevor ihn das Schicksal – Inzest, Tod der Tochter, unheilbare Krankheit – ereilte, war Fabers Leben ein Nicht-Leben gewesen wie das von Herrn Geiser. Faber, der Technokrat, hielt nichts von Träumen, nichts von Utopien (Utopie: das war einst ein Lieblingsbegriff von Frisch und seiner Generation). "Mathematik genügt mir", hatte Faber gesagt. Immerhin dämmert ihm am Schluss eine Erkenntnis: was gelte, sei "standhalten der Zeit beziehungsweise Ewigkeit im Augenblick. Ewig sein: gewesen sein". "Homo faber, der sich selbst versäumt", urteilt Frisch in einer Rede von 1974 über seine frühe Figur. (106) Hätte Faber unbelehrt, ohne Tragödie und Krankheit, sein Dasein verbracht, ihm wäre vielleicht ein Ende wie das von Geiser beschieden gewesen. Denn Geiser, dieser Schlüsselheld der modernen Literatur, hat so wenig Lebenssubstanz angesammelt, dass er im Alter recht eigentlich in sich zusammenfällt. (Das ist, ich muss es betonen, von Frisch her gedacht – und seinem fordernden Existenzialismus).
Der Autor schafft mit der Holozän-Erzählung eine archaische Situation, die dem Nicht-Leben des Protagonisten entspricht: Selbstverlust, eingebildete Tierwerdung … Wenn in Montauk unsere "Gier nach Geschichten" und damit unsere Sehnsucht nach anderen Möglichkeiten, (Frisch spricht gern von Möglichkeiten), erwogen wird, so bleibt dem armen Geiser nur das Untertauchen im naturhaft Vorgeschichtlichen.
Seine Existenz zersetzt sich also von außen und von innen her. "Nur der Mensch hat Zukunft" steht auf einem seiner Lexikonartikel. Ein sarkastischer Vorbehalt zieht sich durch den Text. Ein bissig witziger Ton ist ihm unterlegt: Herr Geiser hat ja gerade keine Zukunft, und vielleicht will er auch keine mehr. Er hat noch eine hoch riskante Flucht über den Pass ins benachbarte Maggiatal unternommen. Wie er dort aber den nächsten Postbus nach Locarno hätte erreichen können, dann den Zug nach Basel, kehrt er um bei Nacht und Regen über reissende Bäche, über Stock und Stein. "Was soll Herr Geiser in Basel?" Triebhaft sucht er den Weg zurück in seine Höhle.
Wer ist er denn eigentlich gewesen, dieser Herr Geiser? Er war Ehemann, Familienvater, Grossvater, ein verlässlicher Patron seiner Firma – auch wenn sein Schwiegersohn als sein Nachfolger jetzt dreimal mehr Umsatz schafft. Ich sehe Herrn Geiser als einen Jedermann. Als Vertreter jenes Bürgertums, das gerade seines unreflektierten Selbstverständnisses wegen, seiner Selbstgenügsamkeit wegen, von einem wie Frisch schwer in Zweifel gezogen wurde.
Was der Dichter selbst den "Lebensaugenblick" nennt, die "Aktualität der eigenen Existenz" (Berliner Journal 97) dürfte dieser Alte kaum je bewusst wahrgenommen haben. Bis zuletzt denkt dieser Schriftsteller heimlich vom Existenzialismus her. Sein Protagonist ist denn auch einer, der sich nie freigesetzt, der nie einen Aufbruch gewagt hat. Er unterscheidet sich also deutlich vom Autor selber.
Von diesem aus gesehen ist Herr Geiser mit seiner Altersverwahrlosung, seinen sinnlosen Handlungen, (seinem Sturz von der Treppe) eine Abwehrgestalt. Mit der Figur bannt Frisch seine eigene Horrorvorstellung. Deshalb konnte er wütend werden, wenn man ihn kurzerhand mit Geiser gleichsetzte. Das taten damals viele, denn eben, es war bekannt, dass der Schriftsteller in Berzona, zuhinterst im Onsernonetal, selber ein Haus besaß. Gewiss, auch er fürchtete panisch den Gedächtnisverlust – was beispielsweise schon im 2. Tagebuch nachzulesen ist. Oder auch im Berliner Journal, welches in den gleichen 70-er Jahren geschrieben wurde wie Der Mensch erscheint im Holozän. In Montauk – eben auch in jenen Jahren entstanden – gibt diese Angst fast ein Leitmotiv ab. Überhaupt könnte man Montauk als ein Gegenwerk sehen zum Holozän. In Montauk entwirft der Autor sich selber: und diese Figur ist eine deutliche Gegenfigur zu Geiser. Das Montauk-Ich, manchmal auch ein Er, möchte dem Phänomen Zeit auf die Spur kommen und wie wir dem ausgeliefert sind von Minute zu Minute. Oder doch von Viertelstunde zu Viertelstunde. Wir täuschen uns mit vielerlei Veranstaltungen über die Zeit hinweg, achten zu wenig darauf, was diese mit uns macht, wie wir in Repetitionen erstarren. Einer der Schlüsselsätze lautet: "Es bleibt das irre Bedürfnis nach Gegenwart." (140) ((Ev S. 130 Montauk: Wer 40 Jahre bei der Bundesbahn gearbeitet habe, wisse, warum das Leben so kurz gewesen ist))
Gegen sein Haus in Berzona hatte der Schriftsteller stets Vorbehalte. Man könne darin anhocken, "ansteinern", meinte er. Darin verkommen wie Geiser. Ein anderer fundamentaler Unterschied zwischen Autor und Figur: Geiser kopiert Texte, schneidet sie aus, sammelt, wie es im Berliner Journal heißt, sogenannt "vorrätige Sätze". Er aber, der Autor, billigt nur "überraschende Sätze".
Schon mit vierzig hatte Frisch den Tod reflektiert. Und unablässig dazu ermahnt, dieser Tatsache entgegenzuwirken. In Antwort aus der Stille, dem Bergroman aus den 30-er Jahren, (– der hier am Deutschen Theater ja auch in einer Dramatisierung zu sehen ist –) heißt es: "Warum leben wir nicht, wo wir doch wissen, dass wir nur ein einziges Mal da sind … auf dieser unsagbar herrlichen Welt". Institutionen aber, Berufszwänge fressen jedwedes Bewusstsein wahrer Gegenwärtigkeit weg. Im frühen Stück Santa Cruz nimmt der Protagonist Abschied von seiner Frau, mit der er 17 Jahre lang verheiratet war. Er will hinausfahren aufs Meer: "Teure Elvira … noch einmal das Meer … noch einmal die Weite alles Möglichen … Ich möchte noch einmal fühlen, welche Gnade es ist, dass ich lebe, in diesem Atemzuge lebe – bevor es uns einschneit für immer." (35/36)
Nur diese Offenheit für den unmittelbaren, den lebendigen Augenblick kann Zukunft schaffen. Stiller wäre das einst fast gelungen. Nach einem Suizidversuch wurde ihm in einem Erkenntnisblitz die Gnade zuteil, sich neu auf die Welt zu bringen. Das erfuhr er in einem New Yorker Spital. Doch diese seine wahre, seine zweite Geburt, wird ihm zuhause im Städtchen (so nennt Stiller seine Heimatsstadt Zürich) aberkannt – so daß er resigniert und schließlich so einsam verdämmert wie Herr Geiser.
Eines von Geisers letzten Stichworten an der Wand heißt "Eschatologie". Dieser Eschatologie, der Lehre also von den letzten Dingen, setzt der Autor im eigenen Namen, wann immer es geht, etwas entgegen, das man mit dem Wort Epiphanie umschreiben könnte – einem Wort also, das Aufbruch herbeiwünscht, Neuschöpfung. ((Luigi Pirandello, mit dem sich Frisch schon in den 40-er und 50-er Jahren befasst haben dürfte, sagt es so: "Nur so kann ich noch leben jetzt: Neu geboren werden jeden Augenblick d. h. jeden Augenblick sterben und ohne Erinnerungen neu geboren werden." (S. 69 im Roman Uno, nessuno, centomila)). Jeder Moment müsste also neu erfahren werden, damit der existenzielle Anspruch sein Genügen fände. Bei Frisch spielt dieser Anspruch ins Religiöse. Man könnte seine Epiphanie also deuten als Durchbruch zum „Lebensgott“, von dem er einmal gesprochen hat. An diesem Gott versündigt sich, wer sich dem „Gespenst der Wiederholung“ preisgibt. „My greatest fear: repetition“ heißt es in „Montauk“. (50). Frischs Existenzialismus, sein Lobpreis des Lebensaugenblicks, hatte seit jeher etwas Forderndes, aber auch eine festliche Note. Auch noch im „Berliner Journal“, wo die unglaubliche Bemerkung zu lesen ist: „Die Luft auf der Haut, dieser Morgen in Rom als Gegenwart; das aber ist dreizehn Jahre her. Nicht Erinnerung, sondern die Gegenwart.“ (68) Frisch also ist definitiv nicht Geiser. Mit dieser Figur aber bannt er seine Angstvision. Eine Angstvision von Selbstverlust, von Chaos, worin sich der Mensch im Alter verlieren kann. Gegen diese Panik hat er seit jeher angeschrieben.
Dabei aber unterzog er auch das Schreiben oft genug einem grundsätzlichen Verdacht: Schreiben ist nicht Leben – so ein Dilemma dieses Autors. Er könne es jedoch nicht lassen zu schreiben. In Montauk berichtet er, er habe eine kleine Schreibmaschine gekauft – obwohl eine literarische Erzählung, die im Tessin spiele, zum 4. Mal missraten sei. "Diese Obsession, Sätze zu tippen", fügt er an (21). Das Schreiben hat Frisch also oft angezweifelt. Immerhin hilft es, die Verwahrlosung in der Routine zu erkennen und analysierend zu ordnen. Einer, der schreibt, ist eher Herr seiner selbst, Richter seiner selbst. Die Feder hat der todkranke Schriftsteller mit einem Skalpell verglichen. Sie schneide mitten hinein in die Dinge, benenne vorgespiegelte Tatsachen.
Jede Realität aber droht sich zu verfestigen. Im 3. Tagebuch hat Frisch, der eidgenössisch diplomierte Architekt, sein letztes Haus entworfen. Es existiert nur als Skizze auf einem Blatt Papier. 71 Jahre alt, sass der Schriftsteller in einer New Yorker Bar und zeichnete (1982) auf, was er als sein "Lebensabendhaus" bezeichnete. Mit dem realen Gebäude in Berzona hat es nichts zu tun. Es existiert nur in der Phantasie, ein weißes hölzernes Haus, das in Neu England stünde und in dem die Toten zu Gast wären, u. a. "der junge Tschechow, der Tolstoi getroffen hat". (58) Diese luftige Bleibe ist der Gegenentwurf zu Geisers Behausung im Tessin. Die Poesie ist der erstarrten Realität also doch überlegen.
Was die beiden Protagonisten betrifft, die hier am Deutschen Theater auftreten, Geiser also und Leuthold, so sind da auch auffällige Parallelen festzustellen: Es ist eine radikale Einsamkeit, welche sie verbindet. Im Buch des jungen Frisch, Antwort aus der Stille, setzt sich der Held einer absoluten Grenze aus. Er weiß nicht, auf welche Seite er kippen wird: auf die Seite des Lebens oder auf die Seite des Todes. Leuthold überlebt seinen Gang auf den Nordgrat, schwer lädiert allerdings. Auch der Held des alten Frisch wagt ein lebensgefährliches Unternehmen mit seiner Flucht über abschüssig glitschige Wege. Doch er tut das instinktiv, ohne Willen zur Selbstbefreiung.
In beiden Büchern erscheint das Gebirge als ein Reich des Todes. Gegen Abend sieht Leuthold den Berg stehen "wie eine finstere Schlacke … und die Wolken, die weiterziehen, sind wie graue und weggeblasene Asche". (16) Die Felsen scheinen "knochengelb" (und dies in beiden Büchern) (128). Dann aber, nach seiner Rückkehr vom Berg, denkt Leuthold, bevor er in Schlaf fällt, es sei "ein unsagbar ernstes Glück, leben zu dürfen". Nirgends könne Leere sein, wo dies Gefühl auch nur einmal wirklich errungen worden sei, dies "Gefühl der Gnade und des Dankes". (145) Eine gewisse Leere aber breitet sich am Schluss von Holozän aus, wenn auch eine unter makelloser Himmelsbläue. (Diese Ausführungen sind ganz von Frisch her gedacht. Jede, jeder aber liest anders, das macht ein Werk produktiv. Ich bin gespannt, wie die Regie, die Dramaturgie, wie die Schauspieler an den Text herangehen).
(c) Beatrice von Matt
Vortragsmanuskript (Impulsvortrag gehalten am 7. Oktober 2016 am Deutschen Theater Berlin, anlässlich der Aufführungen von Der Mensch erscheint im Holozän und Antwort aus der Stille)